Dies ist eine kostenlose Homepage erstellt mit hPage.com.

Foto: Gabriele Datenet

 

 

Immer wieder kommt es vor, dass Tiere angeschafft werden, unüberlegt und ohne daran zu denken, dass diese kleinen Seelen auch Liebe und Geborgenheit zum Leben brauchen.

Manchmal aber fristen sie ein einsames Leben, werden ausgesetzt oder landen in Tierheimen, weil man ihnen überdrüssig geworden ist.

Die folgende Geschichte handelt von dem Kaninchen "Mucki", dessen Leben von Einsamkeit geprägt ist.

Nur Fritz ist sein Freund, eine kleine Maus, die ihn regelmäßig in seinem einsamen Stall besucht.

Ich habe diese Geschichte geschrieben, um aufzurütteln. Tiere sind weder Ware noch Spielzeug ...

Sie wurde 2010 in der Anthologie "Geschichten auf vier Pfoten" beim Codi-Verlag veröffentlicht.

 

Mucki

von Gabriele Datenet

 

Mucki hörte das Öffnen der Haustür, das Klimpern von Schlüsseln und die an Emma gerichteten mahnenden Worte, den Hasen im Stall zu versorgen, bevor sie aus dem Haus ging. Mucki hörte das Klappen der Autotür, das Brummen des Motors und das Geräusch des davonfahrenden Wagens, das leiser und leiser wurde, bis es schließlich ganz verschwand und einer bedrückenden Stille wich. Mucki saß in seiner dunklen Bucht und starrte angespannt durch den Maschendraht seines Stalls, in der Hoffnung, Emma würde ihn heute Morgen nicht wieder vergessen. Er sah das Mädchen um die Ecke kommen, sah, wie sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen holte, ihren Ranzen in den Korb setzte und davonfuhr...

„Nein, Emma, bitte bleib!“, rief er und die Enttäuschung breitete sich in jeder Faser seines Herzens aus und zog ihn hinab in ein Meer aus Verzweiflung und unendlicher Traurigkeit. Sein Blick fiel auf den leeren Futternapf und auf den Wasserspender, aus dem er gestern Abend die letzten Tropfen des abgestandenen Wassers geschleckt hatte. Er spürte den kalten Hauch des Windes durch die Ritzen des Stalls und kuschelte sich tiefer ins Stroh. Sein Magen knurrte und der Hals kratzte vor Trockenheit. Müde schloss er die Augen und lauschte dem Lied einer Amsel, das von Liebe erzählte und von Glück, von einer heilen Welt und von grenzenloser Freiheit. Mucki fühlte sich so furchtbar allein und er fragte sich, was er getan hatte, dass man ihn nicht mehr liebte.

Dabei war alles so schön gewesen, damals, als er in diese Familie kam. Emma hatte mit ihm im Garten gespielt, ihn herumgetragen und ganz viel mit ihm gekuschelt. Sie hatte Löwenzahn für ihn gepflückt, ihn mit Möhrchen und Salat verwöhnt und jeden Tag hatte er von ihr frisches Heu bekommen und Zweige und Äste zum Knabbern. Sie hatte ihm sogar ein großes Gehege versprochen und einen Spielgefährten...

Und als der Winter mit so viel Schnee kam, dass er bis an den Käfig heranragte, schien Emma plötzlich das Interesse an ihm verloren zu haben, denn sie ging viel lieber zum Schlittenfahren, als sich um ihn zu kümmern. Man hatte ihm einen Jutesack gegen die Kälte vor die Tür gehängt, der seinen Käfig nicht nur verdunkelte, sondern auch den Blick nach draußen versperrte. Nur durch ein kleines Loch im Gewebe konnte er noch hinaussehen in den verschneiten Garten, in dem Emma Schneemänner und Iglus baute und mit ihren Freundinnen Schneeballschlachten veranstaltete. Er hatte oft ihr fröhliches Lachen gehört, den Duft von frischgebackenen Kuchen gerochen, der aus dem Haus nach draußen zog und die Frische des Schnees, der unermüdlich vom Himmel fiel, in einen Garten, der mit seinen großen alten Bäumen wie ein Paradies wirkte. Mit einem bedrückten Gefühl hatte er Weihnachten die Lichter am Tannenbaum vor der Haustür betrachtet und zum Jahreswechsel das glitzernde Feuerwerk am Himmel gesehen, welches das neue Jahr begrüßt hatte...

Seitdem waren viele Wochen vergangen und er spürte Emmas Desinteresse jeden Morgen, wenn sie ihm Futter in die Bucht legte, auf die Schnelle, lieblos, ohne ein Wort der Freundlichkeit und ohne eine zärtliche Hand. Sie sah ihn nicht einmal an und schloss schnell wieder die Tür und ließ ihn zurück in seiner Trostlosigkeit und mit dem Wissen eines gebrochenen Versprechens von einem schöneren Leben, an das er jetzt nicht mehr glauben mochte, auch nicht mehr an das Glück und an die Liebe. Seine Menschen, denen er stets mit Zuneigung begegnete, hatten sich von ihm abgewandt und schienen sich anderen, wichtigeren Dingen zuzuwenden, als sich um ein Kaninchen zu kümmern, das ihnen zur Last geworden war.

Mucki kuschelte sich tiefer ins Stroh und lauschte dem Konzert der Vögel, das den Frühling begrüßte und voll war mit einer Leidenschaft und einer Fröhlichkeit, die jedes Herz zum Schwingen brachte. Nur Muckis Herz nicht, denn in ihm war kein Platz mehr für die Freude des Lebens, es war ausgefüllt mit Enttäuschung und Trübsal und mit der Angst, diesem trostlosem Leben womöglich nicht entkommen zu können...

Eine Bewegung neben ihm riss Mucki aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah direkt in die dunklen Augen von Fritz, jener Maus, die ihn in den Wintermonaten hin und wieder besucht und ihm viel von der Welt da draußen erzählt hatte. Unter anderem auch davon, dass die Speisekammer von Muckis Menschen prall gefüllt war mit wundervollen Köstlichkeiten, doch ein Ausflug dorthin zur Gefahr werden konnte, weil überall gefährliche Fallen aufgestellt worden waren, die mit Speck lockten und den sicheren Tod für Mäuse bedeuteten, wenn diese kraftvoll zuschnappten. Fritz kannte die Fallen schon und machte um diese einen großen Bogen, doch wäre er neulich fast dem Puschen der Hausfrau zum Opfer gefallen, die kreischend damit hinter ihm her gerannt war und nach ihm geschlagen hatte. Er hatte sich gerade noch rechtzeitig durch den schmalen Spalt des Fensters in Sicherheit bringen können. Dieses Haus, erzählte er, wollte er nie wieder betreten, denn das waren keine Menschen dort, das waren einfach nur Monster. Monster? Mucki dachte darüber nach und er fragte sich, warum seine Menschen einer so kleinen Maus wie Fritz nicht den kleinsten Krümel gönnten. Gönnten auch sie ihm jetzt kein Futter mehr? Würde er bald hier in dieser kleinen Bucht elendig verhungern und verdursten? Fritz hingegen war frei und er konnte sich jederzeit etwas anderes zu fressen suchen, aber er? Freiheit... Muckis Magen knurrte und er sah auf den leeren Napf in der Ecke. „Hast Du Hunger, Mucki?“, fragte Fritz und folgte seinem Blick zu dem Napf, aus dem er oft zusammen mit Mucki gefressen hatte. „Haben Deine Menschen Dich denn heute Morgen noch nicht gefüttert?“ Mucki schüttelte traurig den Kopf. „Nein, heute nicht und gestern auch nicht. Emmas Mutter hat sonst immer noch mal nach mir geschaut, aber seit ein paar Tagen nicht mehr. Vielleicht ist sie im Moment zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt und hat einfach keine Zeit.“ Fritz sprang ärgerlich durchs Stroh. „Keine Zeit!“, schimpfte er. „Das ist ja wohl typisch Mensch! Jeden Tag treffe ich auf Menschen, die keine Zeit haben. Keine Zeit für dies, keine Zeit für das! Verantwortungsbewusst und liebevoll sollen sie mit ihren Mitbewohnern umgehen! Warum machen sie das oft nicht? Aus Lustlosigkeit, aus Interessenlosigkeit oder einfach nur aus Unwissenheit? Nein, das darf nicht sein, Mucki! Das ist einfach nicht gerecht!“ Fritz lief nervös auf und ab und schien angestrengt nachzudenken. „Du musst hier raus!“, sagte er schließlich. „Menschen, die Dich vergessen, haben Dich nicht verdient!“ Er schlüpfte durch den Draht nach draußen und machte sich so lange an der Türverriegelung zu schaffen, bis die Tür sich knarrend öffnete und eine Helligkeit hereinließ, die Mucki blendete. „Komm’ schon, Mucki!“, rief Fritz und konnte es nicht mehr erwarten, mit dem Kaninchen endlich aufzubrechen. „Aber wohin sollen wir denn gehen?“, fragte Mucki unsicher. „Wohin schon? Ins Paradies natürlich!“, lachte Fritz.

„Mama!“, kreischte Emma erschrocken, als sie vor der leeren Bucht stand. „Mama, Mucki ist weg!“ Ihre Mutter eilte herbei, inspizierte den Kaninchenstall und sah Emma verärgert an. „Sag’ mal Emma, kann es vielleicht sein, dass Du vergessen hast, Mucki zu versorgen? Der Stall ist ja ganz verdreckt, es ist kein frisches Heu da, kein hartes Brot und die Näpfe sind völlig leer!“ „Aber das wollte ich doch gerade eben machen, Mama“, weinte Emma und dicke Tränen rollten ihr augenblicklich über die Wangen. „Emma, so geht das nicht! Erst ein Tier haben wollen und sich dann nicht mehr darum kümmern! Ich kann nicht ständig hinter Dir her rennen und Dich kontrollieren! Ach Mensch, Emma, jetzt langt es mir allmählich! Tiere sind kein Spielzeug! Und schau mal hier, die Tür hast Du auch nicht richtig zugemacht!“ Sie seufzte. „Komm’ jetzt, Emma, gehen wir ihn suchen.“

Während Emma und ihre Mutter den ganzen Garten nach dem Kaninchen absuchten, hatten Mucki und Fritz die Grundstücksgrenzen bereits überschritten. Fritz erzählte seinem Freund von einem riesigen Gehege hinterm Wald, in dem ganz viele Kaninchen glücklich zusammenlebten. Alle konnten nach Herzenslust im Sand buddeln, miteinander spielen und rennen und an frischen Zweigen knabbern. Sie konnten sich in kleine Hütten zurückziehen und miteinander reden. Und das Schönste war, dass ihre Menschen alles für sie taten, um sie glücklich zu machen. Fritz hatte dieses Gehege auf seiner letzten Wanderung entdeckt und er fand, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war, zusammen mit Mucki, der ohnehin immer nur eingesperrt war, dorthin überzusiedeln. Mucki konnte kaum glauben, dass es so etwas Schönes überhaupt gab und er lief schneller, um endlich dort sein zu können, was Fritz als Paradies bezeichnete. Plötzlich hörte er hinter sich einen entsetzlichen Schrei und im selben Augenblick verdunkelte sich über ihm der Himmel und er spürte, wie jemand nach ihm griff. Von einer furchtbaren Angst gepackt, schlug er Haken und spürte etwas Scharfes über seinen Rücken schaben. Der dunkle Schatten folgte ihm unaufhaltsam und er fühlte eine Todesangst in sich aufsteigen, die ihn antrieb, um sein Leben zu kämpfen. Er rannte so schnell, wie er es noch nie zuvor in seinem Leben getan hatte. Panisch sprang die Böschung eines Grabens hinunter, kroch intuitiv in das Dunkel eines Abflussrohrs und blieb dort zitternd vor Entsetzen und mit schmerzendem Rücken im seichten Wasser liegen. Er dachte an Fritz. Wo war er? Was war das für ein furchtbarer Schrei? Dieser setzte sich in seinem Kopf fest und das Herz in seiner Brust hämmerte erbarmungslos. Fritz..., wo bist Du?

Mucki schloss die Augen und versuchte gegen seine Angst anzukämpfen. Würde er seinen Freund jemals wiedersehen? In der Ferne hörte er das Schreien eines Vogels.

Die Atmosphäre zwischen Mutter und Tochter war gespannt. Emma stocherte lustlos in ihrem Essen herum und scharrte nervös mit den Füßen. „Mama, können wir morgen nun ein neues Kaninchen kaufen oder nicht?“, maulte sie. Ihre Mutter sah sie verärgert an. „Nein, Emma, auf gar keinen Fall!“ „Aber warum denn nicht? Alle aus meiner Klasse haben ein Haustier! Dann lass uns doch wenigstens eine Katze oder einen Hund nehmen!“ „Emma, es gibt kein Tier mehr! Gerade hast Du bewiesen, wie toll Du Dich um ein Tier kümmern kannst.“ Emmas Mutter schüttelte den Kopf. „Ein Hund! Das wird ja wohl immer schöner! Wer kümmert sich denn am Ende um das Tier? Ich mal wieder, wie immer! Emma, Du hast Dich nicht einmal um dieses kleine Kaninchen gekümmert, soviel zum Thema „Verantwortungsgefühl“. Ein für alle mal, es gibt kein Tier und basta.“ Emma stampfte wütend mit dem Fuß auf. „Ich will aber ein Tier haben, Mama!“ „Nein, Emma! Jetzt hör’ mir mal gut zu: Du willst ein neues Tier haben und bist nicht einmal in der Lage, Dir Gedanken darüber zu machen, was mit Mucki gerade geschehen ist. Vermutlich irrt der Kleine jetzt da draußen ganz alleine herum und ist so vielen Gefahren ausgesetzt. Vielleicht überlebt er diesen Ausflug überhaupt nicht... und Du willst ihn austauschen wie ein altes Spielzeug...“ Sie stand kopfschüttelnd auf und begann den Tisch abzuräumen. „Kein neues Tier, Emma, mein letztes Wort!“

Mucki hob müde den Kopf und sah zur Böschung hinauf. Hatte da eben jemand seinen Namen gerufen? Er horchte angestrengt, und wirklich, durch das Plätschern des Wassers und das Rauschen der Bäume konnte er ganz deutlich jemanden rufen hören: „Mucki? Mucki, wo bist du?“ Muckis Herz machte einen Satz und er vergaß den Schmerz und die Kälte, die Angst und die Gefahr. Er rappelte sich hoch und sah sich suchend um. „Fritz“, rief er freudig, „Fritz, ich bin hier!“ Sie liefen aufeinander zu und kuschelten sich aneinander. Es war gut, dass sie sich wiederhatten, das war alles, was jetzt zählte.

Fritz war froh, Mucki gesund wiederzusehen und in ihm stieg augenblicklich eine große Liebe für dieses Kaninchen hoch, das ihm gegenüber im letzten Winter so großherzig gewesen war, sein Futter mit ihm zu teilen, dass er sich plötzlich dafür schämte, ihm nicht öfter Gesellschaft geleistet zu haben, obwohl er ganz genau gewusst hatte, wie sehr Mucki unter der Einsamkeit gelitten hatte. „Komm’ Mucki“, sagte Fritz sanft, „Du bist ja ganz nass! Ich weiß ein gutes Plätzchen, wo wir sicher sein können und Du Dich trocknen und ausruhen kannst. Aber lauf nicht wieder weg, Du kennst die Gefahren nicht, die hier in der freien Wildbahn überall lauern. Bleibe dicht bei mir. Es kann sein, dass der Bussard hier noch irgendwo lauert und doch noch seine entflohene Beute will.“ Mucki sah sich erschrocken um und duckte sich tief ins Gras. „Beute?“, flüsterte er panisch und dachte an den schrecklichen Kampf um sein Leben. „War das der Bussard?“ Fritz nickte. „Ja, und das hier ist sein Revier. Man erzählt sich, dass er in diesem Jahr besonders viele Küken in seinem Horst hat.“ Der Gedanke, von einem Greifvogel in Stücke gerissen und aufgefressen zu werden, machte Mucki ganz unruhig. Ein Schauder lief über seinen Körper und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wagte es nicht, aufzustehen und so verharrte er reglos am Boden und hoffte, dass dieser Albtraum aus Angst und Verzweiflung endlich aufhörte. Fritz stupste ihn an. „Wir müssen weiter, Mucki“, sagte er sanft, „Fürchte Dich nicht. Angst ist ein wirklich schlechter Wegbegleiter. Komm’, ich pass’ auf Dich auf.“ Mucki musste Fritz Recht geben, denn wenn er hier weiter so sitzenblieb, würden sie niemals ihr Ziel erreichen. Und so liefen sie im Schutz von Hagebutten- und Holundersträuchern dicht nebeneinander her und atmeten erst erleichtert auf, als eine Scheune vor ihnen auftauchte und Fritz sie durch einen kleinen Spalt in das Innere des Gebäudes führte. Mucki sah sich überrascht um. Durch eine Dachluke drangen die letzten Sonnenstrahlen des Tages herein und beleuchteten aufgestapelte Heu- und Strohballen und Säcke mit Rüben und Wurzeln. Alles erschien ihm so riesig und es duftete so köstlich nach Heu, dass er erst jetzt bemerkte, wie hungrig er eigentlich war. Er lächelte. War das hier ein Schlaraffenland? Noch niemals zuvor hatte er so viel Heu auf einmal gesehen.

Müde und satt kuschelten sie sich im Stroh aneinander und ließen den Tag Revue passieren. Mucki musste an Emma denken, der alles andere wichtiger war, als er. Ob sie ihn jetzt wohl vermisste? Vielleicht hatte sie aber auch noch gar nicht bemerkt, dass er nicht mehr da war... Ein bedrücktes Gefühl breitete sich in ihm aus und er schloss traurig die Augen. Der Schmerz in seiner Seele verschmolz mit dem seines Körpers zu einem festen Klumpen. Die Wunde auf seinem Rücken brannte und er spürte wieder die scharfen Krallen des Vogels und hörte den schrecklichen Schrei. „Fritz, schläfst Du?“, flüsterte er. „Hmmm...“, machte Fritz. „Fritz, mir geht dieser schreckliche Schrei nicht aus dem Sinn“, flüsterte Mucki. „Welcher Schrei?“, murmelte Fritz. „Na ja, der Schrei, als der Bussard kam. Was war das?“ „Ach so, den Schrei meinst Du. Das war ich.“ „Du?“ „Ja, ich wollte auf mich aufmerksam machen.“ „Warum?“ „Weil Bussarde Mäuse zum Fressen gern haben. Ich wollte ihn ablenken, damit Dir nichts passiert.“ Mucki war sprachlos über soviel Großmut. „Aber...“, murmelte er und mochte gar nicht daran denken, was wäre, wenn dieser Fritz geschnappt hätte. „Ach Mucki, der hätte mich doch nicht gekriegt. Ich bin viel kleiner und schneller und außerdem viel gewitzter als der Räuber der Luft.“ Er kicherte. „Aber Du hast Dich gut geschlagen, Mucki. Ich bin richtig stolz auf Dich.“ Muckis Herz füllte sich mit Freude und Stolz, und die Gewissheit, einen solch tollen Freund an seiner Seite zu haben, verlieh ihm Mut und Abenteuerlust und eine Kraft, die er bisher nicht kannte. Er kuschelte sich tiefer ins Stroh und gab sich seiner Müdigkeit hin. „Danke Fritz“, murmelte er und freute sich auf das Kaninchenparadies, das sie bald erreichen würden.

Als die Sonne am Horizont aufging, lag Emma schon lange wach. Die Nacht war voll mit schrecklichen Träumen gewesen und hatten sie immer wieder geweckt. Außerdem war sie immer noch so wütend auf ihre Mutter, dass sie am liebsten nicht mehr mit ihr reden wollte. Warum konnten sie nicht einfach einen neuen Hasen kaufen? Gut, sie hatte Mucki vergessen, aber das kann doch mal vorkommen! Emma stand auf und öffnete das Fenster. Eine frische Brise strömte herein und streichelte ihre Wangen. Sie sah zum Kaninchenstall hinüber, dessen Tür einen Spalt offen stand. Ein Amselpärchen sammelte unermüdlich das herausgefallene Stroh ein und steckte es zusammen mit Grashalmen und Zweigen zwischen die Astgabel einer Birke. Bald würde das Nest fertig sein und die Amselfrau würde dort ihre Eier hineinlegen und brüten, umgeben von einem schützenden Blätterdach. Emma fragte sich, ob Tiere auch Angst und Schmerz empfinden konnten, Glück, Geborgenheit und Liebe, wie ihre Mutter es ihr gestern klar machen wollte. Ihr fiel plötzlich ein, dass Mucki oft ganz apathisch in seinem Stall gesessen hatte. Hatte er sich traurig und einsam gefühlt? Sie versuchte sich zu erinnern, wie sich sein Fell angefühlte. War es weich und flauschig? Sie wusste es nicht mehr. Plötzlich schämte sie sich ihres kindischen Verhaltens und sie wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Ihre Mutter hatte Recht, auch Tiere hatten Gefühle und man konnte sie nicht einfach gegen ein anderes austauschen. Während sie die Amsel betrachtete, verwandelte sich die Wut auf ihre Mutter in Ärger auf sich selbst und sie vermisste plötzlich das kleine Kaninchen, an das sie so wenig gedacht hatte. „Mucki, wo bist Du?“, flüsterte sie, „Es tut mir so Leid.“ Die Erkenntnis, dass sie so unzuverlässig und oberflächlich gehandelt hatte, machte sie furchtbar traurig und Tränen liefen ihr augenblicklich übers Gesicht. Sie konnte das alles nicht mehr ungeschehen machen, doch wollte sie Mucki suchen und wenn sie ihn fand, ihm das beste Zuhause zu geben, das es gab.

Ausgeruht und guter Dinge machten sich Fritz und Mucki wieder auf den Weg. Sie überquerten eine Wiese, deren hochgewachsenes Gras einen guten Schutz vor Feinden bot. Fritz zeigte ihm all die Leckerbissen, die Kaninchen gerne mochten: Löwenzahn, Gänseblümchen, Spitzwegerich...

Mucki war begeistert, es schmeckte einfach köstlich. Die Freiheit, die er jetzt genoss, machte ihn glücklich. Er wollte nicht mehr zurückdenken an jene Zeit, in der er sich so schrecklich eingesperrt und einsam gefühlt hatte. Er wusste jetzt, dass es ein wunderbares Leben außerhalb eines engen Käfigs gab und dieses wollte er in vollen Zügen genießen, auch wenn hier viele Gefahren lauerten, die seinen Tod bedeuten konnten. Mucki und Fritz kicherten vergnügt und sprangen übermütig durch den duftenden Klee. Sie duckten sich, als ein alter Fuchs vorbeitrottete, ohne sie zu wittern. Sie begegneten einer Mausefamilie auf der Suche nach Futter, trafen einen Maulwurf bei seiner Arbeit und stießen auf ein Rehkitz, das brav auf die Rückkehr seiner Mutter wartete. Für Mucki war das alles neu, doch hatte er von Fritz mittlerweile gelernt, seine Sinne einzusetzen, um Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Sie überquerten eine Landstraße, hangelten sich über einen Bach, indem sie von Stein zu Stein sprangen und umgingen die Gefahr, die von einem streunenden Hund ausging. Die Nacht verbrachten sie in einen Offenstall für Pferde und Fritz erzählte im Schein des Mondes von seiner Familie, die im letzten Herbst einem bäuerlichen Pflug zum Opfer gefallen war. Seitdem wanderte er allein durch die Welt, frei und ungebunden, doch manchmal auch ein wenig einsam. Seit er Mucki kannte, war ihm bewusst geworden, was Freundschaft überhaupt bedeutete und wie schön es war, Erlebnisse miteinander zu teilen und zusammen zu lachen. Vielleicht war es jetzt an der Zeit, ein anderes Leben zu führen, ein bodenständiges Leben in Freundschaft und mit Liebe. Mucki war gerührt. Warum hatte er eigentlich noch nie darüber nachgedacht, dass Fritz ein Vorleben hatte? Er lächelte. Das Kaninchengehege bot nun auch Fritz die Möglichkeit eines Neuanfangs. Der Gedanke daran erfreute Mucki. Sie würden ein wunderbares Leben führen, da war er sicher.

Als Mucki und Fritz am nächsten Nachmittag den Wald ohne besondere Vorfälle durchquert hatten, erblickten sie sofort das riesige Kaninchengehege, das eingezäunt und raubvogelgeschützt unter alten Laubbäumen lag. Mucki guckte ein wenig ratlos ob der Umzäumung, doch Fritz lachte: „Mucki, so einfach kommst Du da natürlich nicht herein“. Du musst jetzt Geduld haben und Dich so lange am Zaun aufhalten, bis ein Mensch kommt und Dich einsammelt. Ich bin dann mal weg, bevor die mich hier sehen.“ Und schon war er verschwunden. Mucki wurde so allein ganz ängstlich zu Mute. „Fritz, warte doch! Wo willst Du denn hin?“, rief er, doch der Mäuserich blieb verschwunden. Bevor Mucki überhaupt an den Zaun treten konnte, fühlte er plötzlich Hände, die ihn packten und hochhoben. Vor Schreck zappelte er aus Leibeskräften, um sich zu befreien, doch sie ließen nicht los. „He, Du kleiner Schatz, wo kommst Du denn her?“, hörte er die sanfte Stimme eines Mädchens. „Du musst keine Angst vor mir haben, ich tu Dir nichts.“ Sie setzte ihn in das Gehege und sofort wurde er von den anderen Kaninchen umringt. Unter ihren neugierigen Blicken bekam er große Angst, hatte er doch bisher keine anderen Kaninchen kennengelernt. So machte er sich ganz klein und wagte nicht, ihren Blick zu begegnen, doch sie ermunterten ihn, mit ihnen zu kommen und wollten wissen, wie er hieß und woher er kam. Alle hörten aufmerksam zu, als er zu erzählen begann. Betroffen nahmen sie ihn freundschaftlich in ihrem Kreis auf und zeigten ihm sein neues Zuhause. Mucki war fasziniert. Es gab hier so viele Möglichkeiten zum Spielen und zum Verstecken. Es gab kleine mit Stroh ausgelegte Hütten, in die man sich zurückziehen konnte und sogar einen seichten Teich, an dem man seinen Durst stillen konnte. Hier konnte man nach Herzenslust buddeln und rennen, und in den Näpfen lagen frisches Obst und Gemüse. Mucki war über die freundliche Aufnahme so glücklich, dass er fast weinen musste. Fritz hatte Recht, es war wunderschön hier. Es war wie in einem Paradies. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich  Zuhause. Er war angekommen, hier wollte er bleiben.

Drei Wochen war Mucki jetzt schon weg. Emma hatte alles getan, um ihn zu finden. Jeden Winkel des Gartens hatte sie abgesucht, die ganze Gegend war sie abgelaufen und hatte bei den Nachbarn gefragt. Sie hatte Zettel mit Muckis Foto an die schwarzen Bretter der Schulen gehängt und überall in der Stadt verteilt. Nun wusste sie nicht mehr, was sie noch machen sollte. Bedrückt stand sie am Fenster ihres Zimmers und starrte auf den leeren Kaninchenstall im Garten. Das schlechte Gewissen, sich nicht gut genug gekümmert zu haben, wollte nicht weichen. Ob er überhaupt noch lebte? Der Gedanke daran machte sie traurig. Als sich die Zimmertür leise öffnete und ihre Mutter mit einem Becher Kakao hereinkam, sah Emma sie mit Tränen schimmernden Augen an: „Mama, was ist, wenn er tot ist?“ „Er ist nicht tot, Emma. Wir werden ihn finden“, antwortete die Mutter und stellte den Becher ab. „Du hast alles getan, was machbar war. Jetzt kannst du nur noch abwarten.“ Sie nahm Emma in den Arm. „Mach Dir keine Vorwürfe, meine Süße“, sagte sie sanft. „Jeder macht Fehler, auch ich. Ich hätte mich auch mehr um Mucki kümmern müssen. Aber wir können aus unseren Fehlern lernen und das ist gut so.“ Das Telefon im Flur unterbrach die Zweisamkeit. Emmas Mutter hob den Hörer ab und ein Lächeln zog augenblicklich über ihr Gesicht. „Wirklich? Das ist ja wunderbar! Vielen Dank. Wir kommen gleich. Auf Wiederhören.“ Emma sah ihre Mutter fragend an. „Emma“, rief diese lachend. „Mucki lebt! Man hat ihn gefunden und es geht ihm gut. Gott sei Dank.“

Wenn sich morgens die ersten Sonnenstrahlen auf die Reise machten, war Mucki der erste, der einen ausgiebigen Spaziergang unternahm. So steckte er dann sein Näschen in die Luft, sog die frische Morgenluft ein und rannte los. Er liebte es durch das Gehege zu rennen, über Stock und Stein zu springen, alles zu inspizieren und riesige Löcher zu buddeln. Er liebte es, so früh am Morgen mit Fritz ein Pläuschchen zu halten und sich in der Sonne zu aalen. Die anderen Kaninchen nannten ihn schon „Rennmuckel“, doch wussten sie auch, dass er die Bewegung liebte, weil er so lange eingesperrt gewesen war. Alle waren zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, ja, zu einer richtigen Familie geworden und es war lustig, wenn Fritz spannende und unterhaltsame Geschichten aus seinem Mauseleben erzählte. Und jeden Morgen kam Laura, das Mädchen, das Mucki bei sich aufgenommen hatte und verteilte gutgelaunt frisches Heu und die schönsten Köstlichkeiten, die es gab. Sie reinigte den kleinen Teich und die buntbemalten Häuser und krauelte jeden ausgiebig das Fell. Mucki dachte nicht mehr an Emma, an den kleinen Stall und an die furchtbare Einsamkeit. Er fühlte sich hier angenommen und geliebt und er war so glücklich wie noch nie in seinem Leben.

Mucki erwachte aus seinem Mittagsschlaf. Etwas hatte ihn geweckt. Aber was? Neugierig steckte er die Nase nach draußen und blinzelte in die Sonne. Ihm war, als hätte eben jemand nach ihm gerufen. Aber wer? Da, er hörte es jetzt ganz deutlich: „Mucki, wo bist Du?“ Emma! Das war Emma! Muckis Herz begann aufgeregt zu klopfen und er zog sich ängstlich in seine Behausung zurück. „Mucki, komm’, wir wollen nach Hause gehen.“ Mucki bekam einen furchtbaren Schreck. Nach Hause? Nein! Er wollte nicht wieder so allein sein! Er hörte Schritte, die näher kamen. „Mucki? Wo bist Du denn?“ Mucki presste sich ganz dicht auf den Boden und hielt die Luft an. Er wollte hier nicht weg! Das war doch jetzt sein Zuhause! Die Schritte kamen näher und er konnte Emmas Atem hören. Nein! Bitte Emma, geh weg! Lass mich hier! Als plötzlich das Dach seines Domizils abgenommen wurde, rannte er los. „Nein!“, schrie er, sprang durch das Gehege und schlug wilde Haken, um seine Verfolgerin abzuwehren. Plötzlich fiel ein Netz über ihn und er war gefangen. Emma nahm ihn hoch und hielt ihn fest. Mucki sah in ihr lachendes Gesicht und hörte, wie sie von einem neuen Käfig erzählte, den er bekommen sollte. Sie herzte und küsste ihn, bat ihm um Verzeihung und versprach, dass ab heute alles anders werden würde. Mucki kam es vor wie Hohn, denn so oft schon hatte sie ihm etwas versprochen, ohne es zu halten. Er zappelte, wollte sich befreien, doch sie hielt ihn fest und steckte ihn in eine dunkle Transportbox. Mucki schrie und knurrte, doch das alles nützte ihm nichts. Er war ihr ausgeliefert und würde sein altes verhasstes Leben wieder aufnehmen müssen. Eine große Trauer legte sich plötzlich wie ein Schatten auf ihn. Er begann am ganzen Leib zu zittern und ergab sich seinem Schicksal. Die Stimmen von Emma und Laura waren von einer Fröhlichkeit, die ihm wehtat. Er hatte sich hier so wohl gefühlt und nun war alles vorbei. Seine Freunde waren für immer verloren, er würde sie nie wieder sehen. Und Fritz... Würde Fritz ihn eines Tages besuchen kommen so wie früher? Das glaubte er kaum, denn Fritz hatte hier eine Frau gefunden, mit der er eine Familie gründen wollte.

Familie... Mucki weinte, wie er noch nie geweint hatte und schloss resigniert die Augen. „Mucki?“ Emma sah ihm besorgt durch die die Gitterstäbe an. „Was hast Du, Mucki?”, fragte sie ängstlich. „Laura, was hat Mucki? Glaubst Du, er ist krank?“ Laura schüttelte den Kopf. „Nein“. Emma verstand sofort. „Aber...“, stammelte sie, „Du meinst...“ Laura nickte. „Du hättest ihn sehen sollen, Emma“, sagte sie leise. „Morgens ist er der Erste hier. Er rennt und springt vor Freude und Übermut, als würde er zum ersten Mal die Welt entdecken. Noch nie habe ich ein Kaninchen mit soviel Lebensfreude gesehen.“ Sie lächelte. „Und neulich habe ich etwas ganz Wunderbares entdeckt. Er kommuniziert mit einer kleinen Maus. Man möchte es gar nicht glauben, doch die beiden scheinen so vertraut miteinander zu sein, als würden sie sich schon lange kennen. Emma, Dein Mucki ist etwas ganz Besonderes.“ Emma sah Laura traurig an. „Mucki hat sich noch nie gewehrt, wenn ich ihn auf den Arm nehmen wollte. Sein Schreien hat sich so verzweifelt angehört... Vielleicht wird er bei mir nie mehr glücklich werden, jetzt, wo er hier so viele Freunde gefunden hat.“ Sie sah zu dem Gehege hinüber und hatte plötzlich das Gefühl, alle Kaninchenaugen auf sich gerichtet zu haben. Und saß da etwa eine kleine Maus auf dem Dach des kleinen buntbemalten Hauses und sah zu ihr herüber? Ihr kam auf einmal alles ganz komisch vor und sie wusste mit einem Male, dass Mucki niemals mehr glücklich bei ihr werden würde. „Es ist wirklich total schön hier“, sagte Emma traurig. Sie spürte die Hand ihrer Mutter auf der Schulter. „Dann lass ihn hier, Emma“, sagte sie leise. „Ja, lass ihn einfach hier“, sagte Laura. „Du kannst ihn jederzeit besuchen.“ Emma nickte unter Tränen. „Wir könnten seine Patenschaft übernehmen und uns um die Futter- und Tierarztkosten kümmern“, sagte ihre Mutter. Emma wischte die Tränen ab. „Das wird wohl das Beste sein“, sagte sie leise. „Ich möchte doch nur, dass er glücklich ist.“ Laura legte freundschaftlich den Arm um sie. „Dann setze ihn wieder hinein“, sagte sie sanft. Emma stieg über den Zaun und öffnete die Tür des kleinen Containers. „Lauf, mein kleiner Schatz, Du bist frei“, sagte sie. Mucki ließ sich das nicht zweimal sagen und er stürzte hinaus und rannte zusammen mit den anderen Kaninchen wild durch das Gehege. Seine Lebensfreude war nicht zu übersehen und in Emma stieg augenblicklich das Gefühl der Liebe hoch und die Erkenntnis, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. „Wenn Du Lust hast, kannst Du mir gleich morgen ein bisschen helfen“, sagte Laura lächelnd. Emma nickte. Sie verabschiedeten sich und gingen zum Auto zurück. „Ich bin sehr stolz auf Dich, Emma“, sagte ihre Mutter. Als Emma sich noch einmal umdrehte, stand Laura noch da. Lächelnd winkte sie ihr zu. „Bis morgen“, rief sie. „Ich freue mich.“  

Dies ist eine kostenlose Homepage erstellt mit hPage.com.